»Mir gefallen die Formen, die Energien und die Kräfte...«
Die Konrad Knöpfel-Stiftung Fritz Winter
1965 begeistert sich der Schweizer Kunstliebhaber und Mäzen Konrad Knöpfel bei einem Ausstellungsbesuch in einer Münchner Galerie für die Arbeiten von Fritz Winter, einem der wichtigsten Künstler der deutschen Nachkriegszeit. Knöpfel erwirbt zwei Gemälde und lernt wenig später Winter selbst kennen. Gemeinsam entsteht die Idee zu einer Sammlung, die Knöpfel in eine Stiftung einbringt. Seit 1994 hat die Konrad Knöpfel-Stiftung Fritz Winter ihren Sitz am Kunstmuseum Stuttgart. Über 500 Arbeiten bilden das Werk in allen Schaffensphasen ab. Sie wurden vom Künstler selbst ausgewählt.
Angeregt durch das Studium am Bauhaus bei Paul Klee, befasst sich Fritz Winter fortan mit Farben und Formen: Der Künstler soll nicht nach der Natur, sondern wie die Natur gestalten. Zellen, Kristalle, Wachstum und Energie – die intensive Suche nach der Entstehung von Formen und den ihr zugrunde liegenden Gesetzen spiegelt sich in seinem gesamten Werk. Es ist durch serielles Arbeiten und sich parallel entwickelnde Themenkomplexe geprägt, in denen Winter mit unterschiedlichen Techniken experimentiert. In den Jahren nach 1945 wendet er sich der internationalen Abstraktion zu. Neben Willi Baumeister und anderen Künstler:innen gehört er zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe ZEN 49. Die Künstlervereinigung setzt sich für die ungegenständliche Malerei und künstlerische Freiheit ein.
Raumansicht
Am Anfang
Fritz Winter wächst als Sohn eines Bergmanns auf. Ab dem Jahr 1919 absolviert er eine Lehre zum Grubenelektriker und arbeitet unter Tage in der Zeche Westfalen. Zur gleichen Zeit besucht er das Gymnasium, um nach dem Abschluss Medizin zu studieren. Doch auch die Kunst interessiert ihn, darunter Werke von Vincent van Gogh und Paula Modersohn-Becker. Winter beginnt selbst zu zeichnen und reist 1926 als Hilfsarbeiter durch die Niederlande und Belgien, wo er die Lebensstationen van Goghs besucht.
Seine frühen Zeichnungen, darunter »Die Ährenleserin« aus dem Jahr 1925, zeigen die Nähe zu van Gogh und Modersohn-Becker. Wie die beiden Künstler:innen widmet sich Fritz Winter den hart arbeitenden Menschen und dem bäuerlichen Leben seiner Umgebung. »Die Ährenleserin« stellt er im Moment ihrer Tätigkeit dar; mit gekrümmtem Rücken beugt sie sich nach unten. Die Figur selbst ist mit schnellen, abstrahierenden Strichen in ihren charakteristischen Zügen und Grundformen erfasst.
Das Bauhaus
1927 wird Fritz Winter am Bauhaus in Dessau zum Studium aufgenommen. Zu seinen Lehrern zählen Paul Klee, Oskar Schlemmer und Wassily Kandinsky. Zudem belegt er Physik und Chemie Kurse. Klee bestärkt und ermutigt Winter in seinen Überlegungen zur Beziehung zwischen Kunst und Natur. Beide Künstler streben danach, die inneren Gesetzmäßigkeiten der Natur zu ergründen. Sie wollen Grundstrukturen erfassen und parallel zur Natur schöpferisch tätig sein.
Ihr Ausdrucksmittel ist die Abstraktion. Ihnen geht es somit nicht um eine detailgetreue Abbildung, sondern um die freie Gestaltung, die das Nichtsichtbare erkennbar macht. Zu diesem Ziel ergründen sie die eigenständige Wirkung von Linie, Farbe und Form.
Die Arbeit »Das Boot« zeigt noch ganz die Nähe zu Paul Klee. Sowohl das Motiv als auch die Farbwahl, Rot und Gelb als Primärfarben vor einem schwarzen Hintergrund und die dünnen Linien der gedachten Segel sind Bezüge. Winter reduziert das Boot auf geometrische Grundformen, mit denen er die Gesamtfläche der Arbeit gliedert. Seine Linien und Formen sind jedoch wie jene von Klee nicht streng gerade gezogen, sondern weisen Unregelmäßigkeiten auf. Sie lockern die Komposition auf.
Orientierung und Individualisiserung
Zellen
Die Suche nach den inneren Strukturen und Gesetzmäßigkeiten der Natur durch die Künstler:innen der Zeit ist anregt von technischen Neuerungen in den Naturwissenschaften. Verbesserte Mikroskope und die Entdeckung der Röntgenstrahlen erweitern das Wissen.
Nach seinem Studienabschluss am Bauhaus im Jahr 1930 beginnt Fritz Winter mit Zeichnungen zellenartiger, organischer Formen. Sie erscheinen wie durch ein Mikroskop gesehen. Der Künstler lässt die Zellen einander durchdringen und überlagern, zeigt Teilungen und auch immer wieder den Zellkern. Die Umrisslinie ist bestimmendes Element, während das ausgewogene Verhältnis von Formen und Flächen zueinander an Bedeutung gewinnt.
Winter widmet sich seinen Motiven in Serien, die unterschiedliche Techniken und Materialien einbinden. In seinen Gemälden entwickeln sich die organischen Strukturen zu wuchernden Gebilden. Stärker als in den Zeichnungen treten dort voneinander abgegrenzte geometrische Figuren in den Mittelpunkt. Er sieht sich selbst als Forscher, der die biologischen und mathematischen Gesetzmäßigkeiten der Natur in eine abstrakte Bildsprache überführt.
Kosmos und Sterne
Die »Komposition« aus dem Jahr 1949 steht beispielhaft für einen weiteren Themenkomplex: jenen des Weltalls und der Planeten. Vor einem grobkörnigen Hintergrund zeichnen sich rote Kreise, umgeben von gelben Ringen ab. Zusammen mit genau gesetzten Pinselspuren im Vordergrund erinnern die Formen und Linien assoziativ an Himmelsgestirne, ihre Umlaufbahnen und Kometen. Der forschende Künstler Winter wendet den Blick vom Mikroskop durch das Teleskop.
Kreis, Halbkreis und Linie definieren und gliedern die Fläche. Sie sind so vor und nacheinander angeordnet, dass Räumlichkeit wahrgenommen werden kann. Es scheint, als würden die Planeten vor einer Galaxie schweben. Zugleich erweitert Winter den Raum zu den Betrachter:innen hin, indem er zwei braune Halbkreise an den Rändern platziert. Sie werden als weitere Himmelsgestirne an der Grenze des eigenen Sichtfeldes wahrgenommen.
Winter experimentiert mit verschiedenen Techniken. Anhand des Druckvorgangs der sogenannten Monotypie entsteht die charakteristische Körnung des Hintergrundes: Der Künstler überträgt dafür die Malerei von einer Druckplatte aus Glas auf das Papier.
Kristalle und Lichtstrahlen
Aus den Kristall- und Lichtbildern spricht Winters Neigung zu einem überlegten, geordneten Bildaufbau. Sie sind eng mit dem pantheistischen Weltbild verbunden, an dem er sich orientiert. Die Pantheisten glauben nicht an einen Gott, sondern daran, dass alles von Göttlichkeit durchdrungen ist: die Natur, der Mensch und alle Lebewesen.
In den Kristall- und Lichtbildern überschneiden sich geometrischen Flächen und Stabelemente. Ihre gestaffelte Anordnung und die abgestuften Farbnuancen vermitteln den Eindruck von Tiefe und Raum. Weiterhin arbeitet Winter mit abwechselnd durchsichtigen und stärker deckenden Farbpartien. Insgesamt erschafft er die Wahrnehmung kristalliner Strukturen, die von Lichtstrahlen durchschienene werden. Das Licht breitet sich dabei vom Zentrum in den dunklen Umraum aus.
Kristall und Licht sind wichtige symbolische Bezugspunkte und Motive in der Malerei der Zeit. Sie stehen für das Geistige in der Natur. Das Licht durchdringt die Oberfläche und macht den verborgenen Aufbau der Dinge sichtbar. Gleichsam zeigen sich auch im Kristall die geometrischen und mathematisch-berechenbaren Grundstrukturen der Natur.
Tektonische Strukturen
Neben den Kristallbildern entstehen in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre auch Arbeiten, die als »tektonisch« beschrieben werden. Von Interesse ist der Bildaufbau. Winter ergründet mit ihnen das Zusammenspiel von Formen und Linien, von Volumen und Fläche. Ovale, rechteckige, dreieckige und runde Farbpartien werden von kräftigen schwarzen Konturen eingerahmt und begrenzt. Sie sind nebeneinandergesetzt, teils greifen sie ineinander. Dabei wird vor allem die Fläche gegenüber der Tiefe des Bildes betont. Die einzelnen Elemente bilden einen klaren Bildaufbau.
Die Farbigkeit ist in den Werken zurückgenommen. Schwarz, weiß, grau und braun mit einigen weißen Akzenten innerhalb der Formen dominieren. Die schwarzen Linien variieren in ihrer Stärke. Sie bewegen sich weich geschwungen und lassen in einigen der Arbeiten eigenständige Gebilde erwachsen, die sich harmonisch in die Gesamtanordnung einpassen.
Energie und Wachstum
In der »Komposition über erste Blüten im Walde« aus dem Jahr 1940 verdichten sich die Farbflächen, nun ergänzt durch rote, orange und blaue Akzente. Die Pinselstriche bleiben dabei sichtbar, als seien sie mit schnellen Zügen auf den Malgrund aufgebracht worden. In der Mitte des Gemäldes folgen mehrere dynamische, gebogene Linien aufeinander. Insgesamt entsteht der Eindruck von Bewegung und Energie. Dies geschieht in gedanklicher Anlehnung an die in der Natur wirkenden Kräfte.
Der Titel des Gemäldes regt dazu an, Pflanzen in den abstrakten Formen zu erkennen. Weitere Arbeiten dieser Werkgruppe sind noch stärker an Stillleben orientiert. Winter geht in der Ausführung seiner Bilder allerdings nicht von einem konkreten Gegenstand aus. Inhaltlich belegt er jedoch die abstrakten Formen mit dem Verweis auf die Natur und damit auf Gegenständliches.
»Blatt in Blüte« schuf Winter 1936. Wie einige weitere Gemälde aus den Jahren von 1936–1938 weist es eine andere Maltechnik auf. Der Künstler arbeitet hier zunächst mit einem dickflüssigen Weiß, welches er per Spachtel aufträgt und Tropfen bilden lässt. Insgesamt entsteht ein feines Gewebe, dass er sodann mit Braun- und Schwarztönen übermalt.
Weltverhältnis und Abstraktion
Informel
Zusammen mit Willy Baumeister, Rupprecht Geiger und vier weiteren Künstler*innen gründet Fritz Winter 1949 die Gruppe »ZEN 49«. Die Künstlervereinigung trat aktiv für die ungegenständliche Malerei ein, die sich oft einem ablehnenden Publikum gegenübersah. Für die Künstler*innen selbst stand die abstrakte Kunst als Symbol für die Freiheit und sie verstanden sie als ein Mittel zur Integration in den Westen.
In den 1950er-Jahren beginnt Winters gestisch-informelle Werkphase. Er sah sich darin auch von Künstler*innen aus dem Ausland angeregt. Im Fokus steht dabei der Malvorgang selbst, ein unbewusstes Gestalten im Gegensatz zu einer vorüberlegten Bildordnung. Breite Pinselzüge und Farbfelder, deren Anfang und Ende ausfransen, bestimmen die Gemälde. Die Bilder entstehen aus schnellen Bewegungen heraus. Hinzutreten einzelne harte, eckige oder wellenförmig verlaufende Striche und die Leinwand überziehende Liniennetze. Winter experimentiert in dieser Phase mit dem »dripping«, bei dem Farbe aus einer Dose auf die Leinwand getropft wird, zudem ritzt er Linien in noch weiche Farbe oder trägt die Farbe direkt aus der Tube auf. Auch Schablonenformen kommen zum Einsatz.
Farbraummodulationen
In den 1960er-Jahren befasst sich Fritz Winter mit den gestalterischen und raumschaffenden Eigenschaften von Farbe. Gemälde wie »Rot in Blau fallend« zeigen nebeneinanderliegende und ineinandergreifende Farbrechtecke, die wie ein Netz erscheinen. Die Flächen sind dabei nicht immer scharf umrissen, sondern wirken an den Rändern mitunter wie ausgefranst.
Winter verwendet im einzelnen Werk nur wenige Grundtöne in verschiedenen Nuancen, die harmonisch aufeinander abgestimmt sind. So berücksichtigt er bei der Farbwahl, ob die Farbe warm oder kalt, leuchtend oder stumpf erscheint. Zudem stellt er die Farbtöne so zusammen, dass sie sich aufeinander beziehen und der Eindruck von Räumlichkeit entsteht. Einige Farben scheinen hervorzutreten, andere zurückzuweichen. Im Fall von »Rot in Blau fallend« etwa schweben die Rottöne wie auch die dunkelblauen Töne vor den hellblauen Flächen.
Bereits zu dieser Zeit wendet sich Winter von der zeitgenössischen Kunstszene ab und folgt nur noch seinen eigenen Kunstvorstellungen.
Kreis, Linie und Spirale
In den letzten Jahren seiner künstlerischen Tätigkeit ab 1969 greift Fritz Winter in seinen Gemälden wieder den Kreis, die Spirale und die Linie als Gestaltungselemente auf, die bereits in einer früheren Schaffensphase erprobt wurden. Die Werke sind nicht mehr das Ergebnis einer spontanen Gestaltungsweise, sondern folgen einem zuvor klar durchdachten Bildaufbau. Der Hintergrund ist dabei zumeist zweifarbig und flächig gestaltet. Er bildet die Projektionsebene für die unruhigen Linien und Formen. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das Werk »Vor rotem Kreis«. Mehrere rote und weiße Ringe zeichnen sich vor einer dunkelgrauen und einer graublau abgetönten Fläche ab. Die Ringe werden von mehreren Linien durchschnitten, die bogenförmig von links oben nach rechts unten verlaufen und von einem blauen Keil durchkreuzt werden. Die durchbrochene Kreisform greift Winter in den 1970er Jahren immer wieder auf.
Insgesamt zeichnen sich die Gemälde dieser Werkphase durch eine Konzentration auf wenige Formen und einen schlichten Bildaufbau aus. Im Gegensatz dazu wirken die Motive selbst dynamisch. Winter lotet mit ihnen die gesamte Leinwand in ihrer horizontalen, vertikalen und diagonalen Ausdehnung aus.