Die Stadt
Die Stadt
Das 2005 eröffnete Kunstmuseum Stuttgart liegt mitten im Herzen der Stadt. Über Jahrzehnte wurde in Stuttgart über den Umbau und die Nutzung dieser zentralen Fläche diskutiert. Dabei mussten auch die Verkehrsströme bedacht werden, die an dieser Stelle zusammenkommen.
Im Kubus werden die Sonderausstellungen gezeigt. Mit seiner Glasfassade und nächtlichen Beleuchtung öffnet er sich zum Schlossplatz und zur Königstraße hin. Innen und Außen sind miteinander verbunden. Menschen bewegen sich hinein in das Museum und kehren mit reichen Eindrücken wieder zurück in den städtischen, öffentlichen Raum. Die Treppen links und rechts des Gebäudes sind zu einem Publikumsmagnet und beliebten Treffpunkt geworden. Sowohl tagsüber als auch in den Abend- und Nachtstunden sitzen und stehen dort Leute unmittelbar neben dem Museum essend, trinkend und sich unterhaltend. Zwei stillgelegte Tunnelröhren nehmen den unter dem Kleinen Schlossplatz liegenden Sammlungsbereich auf. Eine Etage tiefer fließt, wie eh und je, der Verkehr in beiden Richtungen.
Der Themenraum »Stadt« versammelt Werke aus den 1930er-Jahren bis in unsere Gegenwart. Die Künstler:innen blicken aus unterschiedlichen Perspektiven auf Stuttgart. Sie thematisieren, was den öffentlichen Raum ausmacht, wie er sich verändert, und loten seine künstlerischen Möglichkeiten und Fragestellungen aus.
Raumansicht
Bürger:innen und Firmen schenken das Gemälde von Oskar Kokoschka der Galerie der Stadt Stuttgart. Anlass ist deren Wiedereröffnung 1961 in den Räumen im Kunstgebäude am Schlossplatz.
Kokoschka blickt vom Rathausturm auf das sich im Kessel zusammendrängende Häusermeer. Die Gebäude der 1920er-Jahre, wie der Tagblattturm, interessieren ihn nicht. Vielmehr schildert er das Zusammenspiel von bebauter Fläche mit den umgebenen Weinbergen und dem fernen Neckartal.
Stuttgart wird im Herbst 1944 schwer durch britische Bomben getroffen. Kokoschka verzichtet darauf, die kriegsbedingten Zerstörungen zu dokumentieren. Mit energischem Pinselstrich und lebhaften Farben gibt er die pulsierende Energie und Dynamik der Stadt wieder.
Das Thema »Stadt« beschäftigt den Maler lebenslang. Eine weitere Serie ist Prag gewidmet, wo Kokoschka zwischen 1934 und 1938 im Exil lebt. In der tschechischen Hauptstadt entkommt er dem Hass der Nationalsozialisten, die ihn zum »entarteten Künstler« erklärt haben. 1953 lassen sich Kokoschka und seine Frau im schweizerischen Villeneuve am Genfer See nieder. Bis 1970 entstehen jährlich ein bis zwei Porträts europäischer Metropolen.
Der öffentliche Raum ist eine Schnittstelle vielschichtiger öffentlicher und privater Interessen. In ihm spielen sich individuelle Aktivitäten ab, seine Gestaltung folgt gleichermaßen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Anforderungen.
Nasan Tur untersucht, wie Kunst einerseits im städtischen Raum und andererseits im Museum wahrgenommen wird. Für seine Versuchsanordnung hat Tur Abfall verwendet, den er in der Stadt gefunden hat. Die undefinierbaren Reste bildet er in Keramik nach und vergoldet sie anschließend. Jede Skulptur hat eine Kopie. Eine davon platziert er an einem belebten Platz in Stuttgart. Eine versteckte Videokamera filmt, was mit dem Kunstwerk passiert. So hält sie den Moment fest, in dem sie von Vorbeigehenden weggetragen wird. Die goldene Erscheinung löst Verwunderung aus. Auf den Gesichtern zeigt sich Unsicherheit darüber, wie rechtmäßig wohl die Mitnahme des Stücks ist. Ob die Objekte später im Fundbüro abgegeben wurden, ist nicht überliefert.
Respektvoll reagieren die Besucher:innen hingegen auf die inszenierte Präsentation der Goldobjekte im Museum. Das parallel ablaufende draußen aufgenommene Video macht bewusst, wie jeder Raum Handlung und Wahrnehmung lenkt. Unwillkürlich fragt man sich: Was hätte ich getan, wenn ich das Goldstück gefunden hätte?
Dieter Roth lebt eine Zeit lang in Stuttgart und hat aus dem Fernsehturm ein Schokoladenkunstwerk gemacht. Sein erklärtes Ziel ist es, Kunst und Leben zu verbinden.
Die Einweihung des Stuttgarter Fernsehturms findet am 5. Februar 1956 nach nur 20-monatiger Bauzeit statt. Anlass für seine Erbauung war die Unzufriedenheit vieler Stuttgarter:innen, im Kessel weder die Krönung von Elisabeth II. von England 1953 noch die Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz an den zahlreicher werdenden Empfangsgeräten miterleben zu können. Die von dem Architekten Fritz Leonhardt entwickelte Stahlbetonkonstruktion wird zum Vorbild von Fernsehtürmen auf der ganzen Welt.
Dieter Roth hat sich selbst nie in eine Schublade stecken lassen. Er arbeitet als Maler und Grafiker, gestaltet zahllose Bücher und verfasst Literatur. Neben Ölfarben und Buntstiften verwendet er alle Materialien, die das Leben bietet. Eines seiner bevorzugten Werkmittel ist Schokolade. Die Masse lässt sich beliebig formen. Sie besitzt die Eigenschaft, über die Zeit bei verschiedenen klimatischen Bedingungen ein Eigenleben zu führen. Schokolade schmilzt, wird spröde, verändert ihre Farbe. Fäulnis und Schimmel erweisen sich als schöpferische und eigenständige Kräfte. Schokolade steht für Roths Überzeugung, dass alles einem unendlichen Prozess von Werden und Vergehen unterliegt.
Von diesem Bild geht eine eigenartige Stille und Magie aus. Eine Häuserwand mit schwer definierbaren Architekturteilen begrenzt eine ansteigende Straße. Figuren mit bodenlangen Gewändern und überbreiten Kopfbedeckungen wandeln auf ihr. Sie werfen keine Schatten.
Der Winter ist die bevorzugte Jahreszeit des Künstlers Leonhard Schmidt. In der Lautlosigkeit der schneebedeckten Szene heben sich Zeit und Raum auf. Die sanft ineinander übergehenden Grau- und Weißtöne unterstreichen den Eindruck einer allgemeingültigen Aussage. Obgleich Schmidt seine Motive direkt in Stuttgart findet und vor Ort Skizzen macht, lässt sich nicht sicher sagen, welche Straße er für dieses Bild gewählt hat.
Schmidt war einer der begabtesten Schüler an der Stuttgarter Kunstakademie. Mit seinem flächigen und reduzierten Stil gehört er zu den wichtigsten Vertretern der Neuen Sachlichkeit in Württemberg. Er tritt der Stuttgarter Sezession bei, einem freien Zusammenschluss moderner Künstler:innen. In der ersten Sezessionsausstellung 1923 im Kunstgebäude am Schlossplatz erhält er einen eigenen Raum für seine Bilder.
Die Künstlerin Claude Horstmann befasst sich mit der Frage, wie man mit Schrift und dem gesprochenen Wort in der Kunst umgehen kann. Von 2007 bis 2011 liest sie in den Orten, in denen sie lebt und arbeitet, achtlos auf die Straßen geworfene bedruckte oder bekritzelte Notizzettel auf. Sie sammelt solche Papierfetzen in Paris, Marseille, Berlin und Stuttgart und verwahrt sie in ihrem Atelier mit einem Hinweis auf den jeweiligen Fundort.
Die Buchstaben, Worte und Teilsätze werden dann von Hand auf Blätter übertragen, wobei die Charakteristik und die Farbgebung der Vorlage erhalten bleiben. Die Fetzen verweisen auf gelebtes Leben und zeigen zugleich, wie Menschen anonyme Spuren im öffentlichen Raum hinterlassen. Das Kunstwerk vereint diese beiden Aspekte im Bild. Obwohl sich kein inhaltlicher Bezug zu den früheren Besitzer:innen herstellen oder die Bedeutung der Zeichen erschließen lässt, geht von den gleichsam schwebenden deutschen und französischen Sprachfragmenten ein poetischer Klang aus. Die jeweiligen Fundorte können – je nach Ortskenntnis der Betrachtenden – individuelle Bilder und Erinnerungen hervorrufen.
Die Serie umfasst sechzehn Motive in zwei Formaten. Ihre Kombination bleibt jeder:jedem freigestellt. Die Serie existiert als Siebdruck mit einer Auflage von 20. So kann sie gleichzeitig an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Sprachräumen ihre Wirkung entfalten.
Reinhold Nägele interessiert sich leidenschaftlich für den Umbau seiner Heimatstadt Stuttgart in den 1920er-Jahren. Er malt die neu entstehenden Gebäude – etwa die Weissenhofsiedlung oder den Tagblattturm. Sein Sohn Thomas Nägele berichtet von zahlreichen Besuchen der Baustellen in der Stadt mit seinem Vater. Er bestätigt, dass Reinhold Nägele die Errichtung des Hauptbahnhofs von Paul Bonatz in allen Bauphasen mit großer Anteilnahme mitverfolgt hat.
Der 1928 fertiggestellte Hauptbahnhof ersetzt den von König Wilhelm I. veranlassten und 1846 eingeweihten Centralbahnhof in der Bolzstraße. Obwohl dieser mehrfach vergrößert wird, kann er das stetig steigende Reiseaufkommen nicht mehr fassen. Nägele dokumentiert den Abriss des alten Gebäudes und zeigt uns, wie perfekt es ursprünglich in die städtische Umgebung eingepasst war. Bis heute hat sich die ehemalige Fassade erhalten. In Nägeles Bild wird sie von Stützen gehalten und wartet auf ihre neue Bestimmung. Der Bonatz'sche Bau im Hintergrund des Gemäldes wird in seiner schlichten und zeitgemäßen Erscheinung vom Künstler zum Wahrzeichen des modernen Stuttgarts erhoben.
Zwei Jahre nach seiner Reise zu den Berliner Lichtwochen malt Reinhold Nägele 1930 das nächtliche Treiben in Stuttgart mit Blick vom Turm des 1928 fertiggestellten Hauptbahnhofs. Aus der Vogelperspektive schaut man in die Königstraße, die von zahlreichen an den Häuserfronten angebrachten Straßenlaternen erleuchtet wird. Die Autoscheinwerfer sind genauso präzise wiedergegeben wie die Straßenbahnwaggons. Rechts und links strahlt Licht aus den Schaufenstern. Bis ins kleinste Detail schildert Nägele das Geschehen auf den Gehsteigen, umgeben von der vielfältigen Architektur. Er späht hinein in die Fenster der Restaurants und Büros, in denen man Menschen beim Essen oder Arbeiten beobachten kann. Als »Chronist der Moderne« hebt er am Horizont die Wirkung des neuen Tagblattturms zwischen den Kirchentürmen durch gelbe Fenster besonders hervor.
Mit der Einführung des elektrischen Lichts in den 1920er-Jahren erlebt das nächtliche Leben in Großstädten einen Aufschwung. 1929 sind in Stuttgart bereits 269 Kilometer Straßen beleuchtet. Wie viele andere Städte in dieser Zeit veranstaltet Stuttgart im Jahr 1928 ein Lichtfest
Stuttgart hat verschiedene Gesichter. Zwei davon sind besonders augenfällig: Ab den 1960er-Jahren wurde der Traum von der autogerechten Stadt mit mehrspurigen Straßen verwirklicht. Zugleich hat dies der Stadt einige Orte beschert, die für den Fußverkehr nicht nutzbar sind. Stolz ist Stuttgart dagegen darauf, nach Budapest das zweitgrößte Mineralwasservorkommen in Europa zu haben. Die Mineralbäder bieten Lebensqualität und ziehen viele Menschen in die Landeshauptstadt.
Die Künstlerin Anna Ingerfurth bringt in ihrer Stuttgart-Serie beide Seiten zusammen. Die Collagen sind kleine Fantasiegebilde, die schmunzeln und nachdenken lassen. Ausgangspunkt sind Fotos aus älteren Bildbänden zu Stuttgart. Die Bildlegenden geben zugleich die Titel der Collagen vor. Mit chirurgischer Präzision fügt die Ingerfurth Szenen aus anderen Fotos in die Vorlagen ein. So platziert sie ein Schwimmbad mit plantschenden Menschen in der ehemaligen Unterführung am Kleinen Schlossplatz. In einer anderen Collage passt sie das Stuttgarter Rathaus mitten in das Loch im Österreichischen Platz ein. Es wird zu einer Barriere für den fließenden Verkehr. Was einst als städtebaulicher Fortschritt galt, wird durch die Kombination zweier nicht zusammenpassender Szenen hinterfragt. Der humorvolle Perspektivwechsel regt an, eine Stadt einmal ganz anders, nämlich mit Blick auf die Menschen und ihre Bedürfnisse zu betrachten.