Die Geschichte der plastischen Sammlung III

Fritz Nuss, Der erste Schritt, 1941

Fritz Nuss: Der erste Schritt

Viele Plastiken aus dem Nationalsozialismus, vor allem Monumentalplastiken, wurden im oder nach dem Zweiten Weltkrieg zerstört, in Museumsdepots gestellt oder gingen in Privatsammlungen. Dennoch sind zahlreiche Werke erhalten geblieben, die noch immer im öffentlichen Raum stehen oder als Ämterschmuck dienen. Ein interessantes Beispiel ist die ca. einen halben Meter hohe Statuette »Der erste Schritt« des württembergischen Bildhauers Fritz Nuss. Sie wurde 1942 auf der »Großen Deutschen Kunstausstellung« gezeigt, acht Jahre später von der Stadt Stuttgart angekauft und befindet sich seit 1952 bis heute im Standesamt. Seit Dezember 2023 befindet sich am Objektschild der Plastik ein QR-Code mit einem Link, der zu den Hintergrundinformationen hier in der Sammlung Online des Kunstmuseum Suttgart führt.

Obwohl »Der erste Schritt« seit nunmehr 72 Jahren Teil der städtischen Kunstsammlung Stuttgart ist, wusste man bis vor kurzem fast nichts über das Kunstwerk. Warum war dieses Sujet für die Kunst im Dritten Reich so interessant, dass es in der »Großen Deutschen Kunstausstellung« 1942 gleich zwei sehr ähnliche Statuetten zu dem Thema gab? Ging es bei dem Kinderakt einzig um eine Auseinandersetzung mit dem klassischen nackten Körper oder flossen hier Ideen ein, die sich aus dem Kontext der NS-Gesellschaft erklären? Schließlich: Warum war die Nacktheit eines Kleinkinds für die Nationalsozialisten selbstverständlich, während sie das im heutigen Diskurs über die künstlerischen Darstellungen von unbekleideten Kindern durchaus nicht ist, weil die Gesellschaft angesichts sexueller Missbrauchsfälle in einem hohen Maß sensibilisiert ist?

Raumansicht

Öffentliche Aufträge für Nuss im Dritten Reich

Von der ersten »Großen Deutschen Kunstausstellung« 1937 an bis 1944 ist Fritz Nuss mit insgesamt 25 Werken auf der sogenannten Leistungsschau der Kunst im Dritten Reich vertreten, von denen einige für die NS-Kunst so typische Titel trugen wie »Der Überlegene«, »Dem gefallenen Kameraden« oder »Der Morgen«. Martin Bormann, der Leiter der Parteikanzlei der NSDAP, kaufte Nuss' Skulptur »Jüngling«, und Adolf Hitler erwarb 1944 seine Bronzestatue »Der Morgen«. Nuss hatte Erfolg, seine Arbeiten, überwiegend Akte und Porträts, entsprachen dem herrschenden Geschmack und gefielen führenden Nationalsozialisten. Mehrfach werden sie auf der »Großen Deutschen Kunstausstellung« im Saal 2 gezeigt, dem Hauptsaal für Plastik. Mit seinen Arbeiten reagierte Nuss durchaus auch auf aktuelle Ereignisse, wie die Bronzebüste eines »Jungen Spaniers« illustriert, die er 1938 auf der »Großen Deutschen Kunstausstellung« ausstellt. Seit 1936 tobte auf der Iberischen Halbinsel ein Bürgerkrieg, in dem Hitler zusammen mit Mussolini die spanischen Faschisten unter General Franco unterstützte. 

Nuss' Beteiligung an den »Großen Deutschen Kunstausstellung« illustriert seine frühzeitige Anpassung an die neue Kunstauffassung im Dritten Reich. Als die Nationalsozialisten die Macht übernehmen, ist er 26 Jahre alt. Er steht noch am Anfang seiner künstlerischen Laufbahn. Er lässt sich erfolgreich auf die neuen Verhältnisse ein und erhält 1935 den Auftrag, zusammen mit dem Stuttgarter Maler, Akademiekollegen und Freund Peter Jakob Schober (1897–1983) den Sitzungssaal des Aalener Rathauses auszuschmücken. Dafür fertigt er eine Hitler-Büste, ein Hoheitszeichen und einen monumentalen Reichsadler mit Hakenkreuz. 

Der Aalener Auftrag bleibt nicht der einzige, bei dem Nuss und Schober gemeinsam zum Zuge kommen. Bekannt ist etwa, dass beide von der Stadt Stuttgart beauftragt werden, die 1940 fertiggestellte Ostmarkschule in Stuttgart-Vaihingen mitzugestalten. Im März 1942 verpflichtet sich Nuss zur Anfertigung eines Brunnens mit Plastiken und einer Skulptur für den Eingang der Schule im Gesamtwert von 30 500 Reichsmark.

Seine »Stehende« (1936), ursprünglich »Frau mit Tuch«, wird der Öffentlichkeit zum ersten Mal auf der »Großen Deutschen Kunstausstellung« 1938 vorgestellt und ist dann wenig später in der Reichsgartenschau in Stuttgart zu sehen. Entweder zu diesem Zeitpunkt oder 1950 scheint sie von der Stadt erworben worden zu sein, denn die Marmorskulptur wird 1950 im Höhenpark Killesberg aufgestellt, wo sie sich seitdem befindet. 

Noch im August 1944 wird Nuss' Bitte vom Stadtrat und Kulturreferenten Dr. Eduard Könekamp positiv beschieden, eine seiner überlebensgroßen Aktfiguren, die er auf der »Großen Deutschen Kunstausstellung« ausgestellt hatte, in dem Seitenstollen des Wagenburgtunnels unterbringen zu dürfen, um sie vor dem Krieg zu schützen.

Fritz Nuss' Eintritt in die NSDAP

Fritz Nuss wird 1937 Mitglied in der NSDAP und beweist dadurch, ein »volksnaher«, konformer Künstler zu sein. Dass er Nationalsozialist gewesen ist, versteht er nach dem Krieg geschickt zu wenden. In seinem Entnazifizierungsverfahren sagt er aus, er sei wegen des »wiederholte[n] Drängen[s]« seiner nationalsozialistischen Vorgesetzten in der Stuttgarter Kunstakademie in die NSDAP eingetreten. Auch später hält er an dieser Sicht fest. Nuss war von 1935 bis 1938 Assistent für Bildhauerei bei Professor Ludwig Habich. Der damalige Dozentenführer, so Nuss, hätte ihn wiederholt zum Eintritt in die Partei aufgefordert und schließlich habe er nachgegeben. Trotzdem sei er politisch immer »desinteressiert« gewesen.

In der nicht sehr zahlreichen Literatur über Nuss sucht man diese Details in seiner Biografie und zu seinen im Dritten Reich entstandenen Werken vergeblich. Auch in den vielen über ihn erschienenen Zeitungsartikel finden sich keine Informationen zu seiner Anpassung an das Regime. Stattdessen wird in der Nachkriegszeit seine »Lebens«-Leistung gewürdigt, für die er die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg, das Bundesverdienstkreuz und die Ehrenbürgerwürde der Stadt Weinstadt erhält. 

Nuss' Anpassung ist keineswegs untypisch für sein unmittelbares künstlerisches Umfeld, insbesondere an der Stuttgarter Kunstakademie. Der bildhauerische Stil von Professor Ludwig Habich, dessen Meisterschüler Nuss war, war traditionell geprägt und kam der nationalsozialistischen Kunstauffassung entgegen. Auch der Bildhauer und Akademiedirektor Fritz von Graevenitz (1892–1959), dessen Assistent Nuss wurde, unterstützte das NS-Regime. Seine Arbeiten standen der nationalsozialistischen Ideologie keineswegs fern. Als die Galerie der Stadt Stuttgart Nuss 1982 anlässlich seines 75. Geburtstags eine Retrospektive widmet, blendet sie seine Anpassung an den Faschismus und seine zum Teil propagandistischen Werke aus. 

Mitläufer, Konformist?

War Fritz Nuss ein »Mitläufer«, wie die Spruchkammer entschied? Oder ein Opportunist, ein Konformist, wie sein Berliner Kollege Georg Kolbe (1877–1947)? Finden sich in Nuss' Bildsprache und Ästhetik Formen und Inhalte, die der Plastik im Nationalsozialismus und dem vom Regime propagierten Rasse-Ideal entsprechen?

Fraglos hat sich Nuss künstlerisch angepasst, ansonsten hätte er im akademischen und außerakademischen Kunstbetrieb nicht erfolgreich sein können, weder als freier Bildhauer noch als Kunstfunktionär. Zudem hätte er 1941 nicht Assistent von Graevenitz werden und die Bildhauerklasse an der Stuttgarter Akademie leiten können. Und er hätte nicht von 1942 bis 1944 Fachreferent für die Bildhauer Württembergs bei der Reichskammer der bildenden Künste sein können. Gekrönt wurde diese Laufbahn 1942 durch den Ruf an die Akademie Breslau, die Nuss jedoch wegen der Kriegsumstände nicht annahm. Den Professorentitel bekam er 1943 trotzdem. 

Wegen seiner Parteimitgliedschaft und Haltung zum Nationalsozialismus muss sich Nuss nach dem Krieg einem Spruchkammerverfahren zur Entnazifizierung stellen. Zu seiner Entlastung bringt er vor, das Amt des Fachreferenten für die Bildhauer Württembergs »nur aushilfsweise angenommen« zu haben: »Ich habe stets die Interessen der Kunst gewahrt und habe die guten Künstler, darunter auch sogenannte Unterdrückte, soweit dies bei der Landesleitung Stuttgart überhaupt notwendig war, nach Kräften unterstützt.« 

Und inwieweit spiegelt sich Nuss' Anpassung an das Regime in seinen künstlerischen Werken? Viele seiner Männer- und Frauenakte, die er in den späten 1930er- und frühen 1940er-Jahren anfertigt und auf den »Großen Deutschen Kunstausstellungen« präsentiert (»Frau mit Tuch« [1936], »Junger Spanier« [1938], »Diskuswerfer [1939], »Junge Frau« [1940], »Der Überlegene« [1941], »Jüngling« [1942] »Der Morgen« [1943], »Dem gefallenen Kameraden« [1943]) entsprechen dem NS-Geschmack. Das unterstreichen die Ankäufe durch hochrangige Persönlichkeiten des Regimes. Die Werke können daher zu den Plastiken aus dem Nationalsozialismus gezählt werden. 

1944 erwirbt das NS-Kunstreferat die von Nuss angefertigte Büste von Professor Hans Spiegel (1894–1966). Spiegel war Mitte der 1920er-Jahre Professor für Wandmalerei und Komposition an der Stuttgarter Kunstakademie geworden, die er ab 1932 leitete ‒ von 1935 an in kommissarischer Funktion. 1938 gab er das Amt ab, behielt aber bis zum Ende des Dritten Reiches seine Professur. Er war am 1. Mai 1933 in die NSDAP eingetreten und war Mitglied zahlreicher NS-Organisationen (NS-Dozentenbund, Förderndes Mitglied der Allgemeinen Schutzstaffel [SS], Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, NS-Altherrenbund, Reichskolonialbund, Luftschutzbund, NS-Kriegsopferversorgung). Nicht nur politisch, sondern auch künstlerisch vertrat er die Positionen des Regimes. Auf der »Großen Deutschen Kunstausstellung« 1937 stellt er sein Weltkriegsbild »Kameraden« aus. Als Vertreter der Reichskulturkammer veranlasste er die Abhängung von Kunstwerken in Ausstellungen und verhängte Ausstellungsverbote.

Der erste Schritt: Ein unverdächtiges Werk?

Ein kleiner Lockenkopf wagt seinen »ersten Schritt«, den aufrechten Gang. Noch unsicher auf den Beinchen und in leichter Rückenlage, balanciert das Mädchen mit seinen Ärmchen, um nicht umzufallen. Fritz Nuss schafft diesen Kinderakt 1941. Sein Modell ist seine ein Jahr zuvor geborene Tochter. Auf der »Großen Deutschen Kunstausstellung« 1942 wird sein Werk auf einem Marmortisch ohne Sockel neben mehreren Kleinplastiken anderer Künstler:innen im Ausstellungssaal 38 präsentiert.

Nuss' figurativ-realistische Darstellung des Kleinkinds thematisiert den Körper eines sehr jungen Menschen und stellt ihn in seinen ersten Entwicklungsstufen etwa im 1./2. Lebensjahr dar. Nuss geht es nicht nur um den Meilenstein des »ersten Schritts«, sondern um die Erhebung dieses Ereignisses zu einem allgemeingültigen Sujet. 

Das kleine Mädchen ist unbekleidet – nackt. Ein Kinderakt. Angesichts der Tatsache, dass solche Darstellungen heute in der Kunst zu Debatten führen würden, stellt sich die Frage, warum das Sujet im Nationalsozialismus ganz selbstverständlich und beliebt war. 

Schamgefühl und Sexualität, Freikörperkultur und Nackterziehung

Bei Fritz Nuss' Kinderakt lenkt nichts von der Nacktheit und Geschlechtlichkeit des Kleinkinds ab. Die naturalistische Darstellung steht im Vordergrund. Das Kleinkind bewegt sich frei von Schamgefühl und folgt seinem Bewegungsdrang, ohne ein moralisches Bewusstsein von seinem unbekleideten Zustand zu haben. 

In der Statuette spiegelt sich die Haltung der Nationalsozialisten, die sie gegenüber dem Schamgefühl und der Sexualität hatten. Gerade der Nationalsozialismus versuchte mit seiner rassistisch-antisemitischen Weltanschauung eine »arisch-germanische Natürlichkeit« zu leben. Dieses »arische Lebensgefühl« knüpfte an Ideen der Freikörperkultur und der Lebensreformbewegung an, die ein Ende von Tabus anstrebten und das Schamgefühl überwinden und die Sexualität befreien wollten. Der nackte Körper wurde als natürlichster Ausdruck von Körperlichkeit wiederentdeckt. Für Nuss und die Besucher:innen der »Großen Deutschen Kunstausstellung« stand die gezeigte Nacktheit damit für Natürlichkeit und Freiheit.

Diese Vorstellung findet sich schon in den 1920er-Jahren. Für das Plakat »Licht und Luft in die Wohnung«, um 1925 von dem Grafiker Arno Drescher (1882–1979) entworfen, ist sie maßgebend. Ein blondes, blauäugiges nacktes Kleinkind steht in einem Laufgitter am offenen Fenster einer Wohnung. Es scheint wie die Topflanze förmlich in Sonnenstrahlen und sauberer Luft zu baden. In der Farbsymbolik steht hier Blau für die reine Luft, Gelb für die Sonnenstrahlen und Weiß für Sauberkeit.

Die Weimarer Verfassung enthielt das Recht auf Wohnung für alle. Die katastrophalen Wohnverhältnisse, die überfüllten Hinterhöfe und Mietskasernen der Großstädte sollten überwunden werden. Das Plakat mit der Darstellung des rosigen Kleinkinds bringt die Zukunftserwartung zum Ausdruck. Der nackte Knabe ist unschuldig, weil er noch kein Schamgefühl hat und (scheinbar) noch kein bewusstes sexuelles Wesen ist. 

Untersuchungen zur Sexualität im Dritten Reich haben gezeigt, dass es in zahlreichen Publikationen nackte Körper in großer Anzahl gab. Zum einen sollte der edle deutsche Körper präsentiert werden, zum anderen die gesunde Freikörperkultur. Es verwundert daher nicht, dass das NS-Regime Aktdarstellungen in der Malerei und Plastik förderte, um sein Körperideal zu verbreiten. Dabei ging es immer um die Vermittlung »idealer Rassetypen«, die in naturalistischer Manier dargeboten wurden und sich in der Plastik an antiken Vorbildern orientierten. Die NS-Zeitschrift »Der Schwarze Korps« publizierte in den Anfangsjahren des »Dritten Reiches« oft Aktbilder (Zeichnungen, Skulpturen, Fotos) und lobte die Nacktheit »als rein, natürlich und lebensbejahend«. Das entsprach den Vorstellungen der NS-Führer, die eine Vorliebe für Akte hatten, vor allem für Darstellungen des nackten Frauenkörpers, die auf den »Großen Deutschen Kunstausstellungen« 10 Prozent aller ausgestellten Werke ausmachten. Die in der Regel sehr realistisch dargestellten Akte fanden sich nach dem Ankauf durch den Staat dann als Ämterschmuck und Kunst am öffentlichen Bau in staatlichen und kommunalen Gebäuden.

Das Kind in der NS-Gesellschaft

Fritz Nuss zeigt bei seinem Kinderakt ganz bewusst ein unbekleidetes Kleinkind. Wäre es ihm um das Motiv des ersten Schritts gegangen, hätte das Kind nicht unbekleidet sein müssen. Zielte er hingegen darauf ab, den Menschen schlechthin im Entwicklungsstadium des Kleinkinds zu zeigen, das heißt in einer verallgemeinerten Form, dann war es notwendig, auf die Darstellung von Kleidern zu verzichten und sich auf den unbekleideten Körper zu konzentrieren. 

Wie in seinen Frauen- und Männerakten, die er auf den »Großen Deutschen Kunstausstellungen« zeigt, steht uns auch in diesem Kinderakt ein idealisierter Körper gegenüber, der den Ansprüchen der NS-Ideologie vom neuen »arischen« Menschen genügte. Es ist ein gesundes, wohlgenährtes, sauberes Mädchen. Ein »blondgelockter« Engel mit ebenmäßigem Antlitz. Dass wir das Kind mit einem »Blondschopf« assoziieren, kommt nicht von ungefähr, denn Nuss porträtiert den Säugling mit einer für dieses Alter ungewöhnlich fülligen Haarpracht. Vor allem die Locken sind es, die im Kontext der Ideologie von der »arischen Rasse« an blonde Haare und blaue Augen denken lassen. Wie auch immer die Haare seines Modells aussahen, Nuss war sich sicher bewusst, dass Locken dem Schönheitsideal entsprachen, das die Nationalsozialisten mit einem »arischen« Kind verbanden. Ganz ähnlich zeigt beispielsweise auch der Umschlag zu Haarers Buch »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« ein gelocktes Kleinkind. 

Die »Großen Deutschen Kunstausstellungen« sind eine Bühne, auf der sich die deutschen Künstler:innen ab 1937 vorstellen, und eine Schau, in der sie nach Möglichkeit ihre Werke zu verkaufen versuchen. Nuss wird sich jedes Jahr aufs Neue gut überlegt haben, mit welcher Arbeit er zu dieser »Leistungsschau« antritt und wie er sich dort am besten präsentiert. Sein Kinderakt fügt sich in die von ihm über die Jahre hin weg ausgestellten Werke. 1942 zeigt er zwei Büsten, die seine Mutter und deren Enkelin porträtieren. 

Die Geburt von Kindern als »Schlacht«

Der deutsch-sowjetische Krieg ging 1942 in sein zweites Jahr, und die Schlacht um Stalingrad sollte 1942/43 die Wende im Zweiten Weltkrieg bringen, die die Niederlage des Deutschen Reiches ankündigte. Gerade im Krieg gewann Adolf Hitlers Wort vom Kinderkriegen als »Schlacht« ein besonderes Gewicht. Im Jahr 1934 hatte er in einer Rede vor der NS-Frauenschaft gesagt: »Jedes Kind, das [die Frau] zur Welt bringt, ist eine Schlacht, die sie besteht für das Sein oder Nichtsein ihres Volkes.« Jedes neugeborene Kind wurde im Krieg als Erfolg im Kampf gegen den Volkstod betrachtet, als Sieg in der sogenannten Geburtenschlacht bzw. im Geburtenkrieg, den die nationalsozialistische Volksgemeinschaft zu führen hatte. Heinrich Himmler sprach in diesem Zusammenhang vom »Sieg des deutschen Kindes« und der Notwendigkeit der Vier-Kinder-Familie.

Im Zusammenhang mit dieser Weltanschauung war der erste selbstständige Schritt eines Kindes ein Erfolg in dieser angeblich existenziellen Auseinandersetzung der Völker. Bezogen auf kleine Mädchen bedeutete dieser Schritt, dass sie nach einiger Zeit selbst zu einer geburtsfähigen Frau heranreifen würden und nun selbst Kinder zur Welt bringen und damit dem Volk als Mütter dienen könnten und sollten.

»Ein kleiner Schritt für den Menschen, aber ein riesen Sprung für die Menschheit.« (Neil Armstrong)

Das teilte der US-amerikanische Astronaut Neil Amstrong bei seinem ersten Schritt auf dem Mond über Funk der Erde mit. In dieser Äußerung spiegelt sich die symbolische Bedeutung des menschlichen Schritts: Dem Menschen war es durch seine intellektuellen Fähigkeiten gelungen, auf dem Mond zu landen, einen »großen Schritt« zu tun. 

»Der erste Schritt« eines Babys ist damit vergleichbar, weil es durch die Fähigkeit, zu gehen, seine Umwelt unabhängig erkunden kann. Die ersten Schritte sind ein Meilenstein in der frühkindlichen Entwicklung und deshalb für die Eltern ein unvergessliches Erlebnis. Fritz Nuss nannte seine Plastik bewusst »Der erste Schritt«, ein Werktitel, der weiten Interpretationsspielraum zulässt und über die persönliche familiäre Situation hinausgeht. Nuss hätte sein Werk durchaus nach seiner Tochter benennen können, doch stattdessen wählte er einen allgemein gehaltenen Titel, der über das Individuum hinausweist. Damit war auch die Möglichkeit gegeben, in der Plastik »Der erste Schritt« ein Symbol der Entwicklung des Deutschen Reiches selbst zu erblicken, das mit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 in eine neue Phase des Krieges eingetreten war und damit angeblich der Verwirklichung des »Tausendjährigen Reiches« einen großen Schritt näher gekommen zu sein schien. Nuss' Plastik war daher vermutlich auf zweierlei Art und Weise interpretierbar: erstens auf einer persönlichen Ebene im Sinne einer Familie, die sich über das erste Kind und seine gute Entwicklung freute, oder zweitens auf einer allgemeinen Ebene, die das »deutsche Kind« im Blick hatte, dessen Bedeutung für die Gesellschaft im Krieg reflektierte und den »ersten Schritt« mit der Entwicklung des Reiches in Beziehung setzte. 

Eine Heils- und Erlösungsbotschaft?

Bei der Betrachtung von Fritz Nuss' Plastik »Der erste Schritt« gibt es viel Deutungsspielraum. Neben dem Bezug auf das private Glück junger Familien und dem größeren Bezug auf das Reich allgemein lässt die Darstellung des Kleinkinds infolge der christlichen Ikonografie auch an das Jesuskind denken und kann somit in Verbindung mit einer Heils- und Erlösungsbotschaft gebracht werden, ist doch mit dem Jesuskind im Kontext des christlichen Glaubens immer auch die Idee der Erlösung verbunden. Im Fall von Nuss' Plastik mag eine solche Interpretation überzogen erscheinen, zumal sie keinen Knaben, sondern ein Mädchen zeigt. Doch es kann nicht ausgeschlossen werden, dass den damaligen Betrachter:innen vor dem Hintergrund des Krieges solche Erlösungsgedanken im Angesicht des nackten Kindes gekommen sein mögen. Fraglos verkörpert es in seiner Nacktheit Unschuld und damit Hoffnung.

Schließlich eröffnet noch ein weiterer Aspekt eine Möglichkeit der Deutung. Nuss erhält im Frühjahr 1941 den Auftrag, für die Vaihinger Ostmarkschule einen Brunnen mit Plastiken zu gestalten. Dafür macht er Vorschläge, die heute aber nicht mehr bekannt sind. In der Kunstgeschichte gibt es Beispiele für nackte Kinderfiguren als Brunnenschmuck, zum Beispiel den berühmten Brüsseler »Manneken Pis« (1619) des Bildhauers Hiëronymus Duquesnoy (1602–1654). In Stuttgart gestaltete Emil Kiemlen 1913 für die neue Arbeitersiedlung in Degerloch-Falterau das »Brunnenbüble«, das sich stark an dem belgischen Vorbild orientierte. Hier wie dort haben wir die lebensgroße Figur eines lockigen Knaben. Es ist denkbar, dass Nuss für die Gestaltung seines Brunnens für die Ostmarkschule gleichfalls einen Kinderakt vorgesehen hatte. Im Jahr zuvor war seine Tochter zur Welt gekommen. Sie hätte sein Modell für die Brunnenfigur sein können. Ein Brunnen mit einer Kinderfigur passte gut zu einer Schule. Das Entstehungsjahr von »Der erste Schritt« und der Vertragsabschluss mit der Gemeinde Vaihingen im gleichen Jahr könnten Indizien für einen solchen Zusammenhang sein. 

Wie ist »Der erste Schritt« im Stuttgarter Standesamt Mitte heute zu verstehen?

Bis 1995 diente die Plastik »Der erste Schritt« als Tischschmuck im großen Trauraum des Stuttgarter Standesamts Mitte. Nach einem Umbau und der Neugestaltung des Standesamts 2009 wurde sie vor dem Trauungszimmer aufgestellt, wo sie sich auch heute noch befindet. Früher war sie mit einem Schild an der Marmorsäule versehen, auf dem zu lesen war: »Der erste Schritt«, 1941 / Bronzeplastik: Prof. Fritz Nuss (1907–1992)«. Ein Infoblatt des Standesamts ergänzte: »Die kleine Putte ist […] von Professor Nuss; sie stellt seine Tochter im Kindesalter dar.« 

Bis Herbst 2023 fehlte dabei jeglicher Hinweis auf die Geschichte der Plastik und Nuss' Biografie im Nationalsozialismus. Zwar ließ sich die Verbindung durch das Entstehungsjahr herstellen, doch erfuhr man nicht, dass Nuss im Zweiten Weltkrieg den Professorentitel verliehen bekam und vom System profitierte. Im Standesamt wusste man über die historischen Hintergründe bis 2022 nichts. Für das Amt war die Plastik ein passender (Ämter-)Schmuck, weil Eheschließungen immer auch in Verbindung mit Familienplanung gebracht werden. Schließlich werden im Standesamt auch neugeborene Kinder angemeldet. Der Kinderakt steht im Standesamt symbolisch betrachtet für die Familie im Allgemeinen und den Nachwuchs im Besonderen. Die Kinderdarstellung kann einerseits zu einer Projektionsfläche für einen vorhandenen Kinderwunsch und eine Familienplanung bei den Trauleuten werden, andererseits erinnert der Staat auf eine mittelbare Weise daran, dass die Zeugung von Nachwuchs und die Gründung einer Familie erwünscht und im allgemeinen Interesse sind. Somit drückt das Kunstwerk die Wertschätzung des Kindes in der Gesellschaft aus.

Aber kann der 1941 entstandene Mädchenakt, der im historischen Kontext auch eine Darstellung des »deutschen« Kindes/Mädchens war und mit den Rassevorstellungen des NS-Menschenbilds übereinstimmte, den heutigen Vorstellungen einer diversen, multikulturellen, offenen und aufgeklärten Gesellschaft entsprechen? Wird mit solchem Ämterschmuck, den eine konservativ-realistische Bildsprache auszeichnet, nicht eine Vorstellungswelt bedient, die sich im Nationalsozialismus aus völkischen Ideen speiste und den Verein »Lebensborn« hervorbrachte, eine Institution der SS, die sich zum Ziel setzte, »arische«, »reinrassige« Kinder zu zeugen und aufzuziehen und alle Menschen, die dieser Norm nicht entsprachen, zu vernichten? Müsste nicht auch der Ämterschmuck an einem Ort wie dem Standesamt Mitte auf die gesellschaftlichen Entwicklungen reagieren? Das Kunstmuseum Stuttgart und das Standesamt entschieden im Sommer 2023, dass durch eine Texttafel auf den historischen Kontext des Werks und die Biografie des Künstlers im Nationalsozialismus hingewiesen wird. 

Ein neuer Umgang mit der Plastik »Der erste Schritt«

Weil es sich bei der Plastik von Fritz Nuss im Stuttgarter Standesamt Mitte um ein Kunstwerk aus der Zeit des Nationalsozialismus handelt, sollte es nicht unkommentiert und ohne Kontextualisierung im öffentlichen Raum präsentiert werden. Im Grunde genommen ist diese Bronzestatue ein Kunstwerk, das einer musealen Vermittlung bedarf, um vollumfänglich in seinem Bildgehalt und seinem historischen Kontext verständlich zu werden. Nuss' Kinderakt, das unbekleidete weibliche Kleinkind, steht für ein Menschenbild, das den nationalsozialistischen Vorstellungen entsprach. Sonst hätte das Werk nicht auf der »Großen Deutschen Kunstausstellung« ausgestellt werden können. Das Kinderbild wurde im Nationalsozialismus bestimmt von der rassistischen Idee einer völkisch-konstituierten, homogenen Bevölkerung. Nuss' Plastik gibt keineswegs ein zeitloses, vermeintlich ahistorisches ideales Menschenbild wieder, sondern sie ist eingebettet im historischen Kontext. 

Betrachten wir alle Bildwerke, die Nuss im Verlauf der »Großen Deutschen Kunstausstellungen« von 1937 bis 1944 ausstellte – hier insbesondere seine Frauenakte –, dann fällt auf, dass er alle Entwicklungsstufen im Leben einer Frau thematisierte: das Kleinkind, das Mädchen, die junge Frau, die reife (fruchtbare) und die alte Frau. Die Plastik »Der erste Schritt« ist nicht einfach eine porträtartige Darstellung seiner kleinen Tochter, sondern die Darstellung eines (deutschen) Mädchens, das nach dem »ersten Schritt« im Kindesalter einmal zu einer gesunden Frau heranreifen wird. 

Nuss' Plastik des »Wonneproppens« wird in einer Zeit ausgestellt, in der Kinder ermordet werden, die nicht zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zählen, weil sie körperlich und geistig behindert sind, weil sie Kinder von jüdischen Familien, von Sinti und Roma, von Eltern anderer, als »rassisch minderwertig« angesehener Volksgruppen und Völker sind, deren Länder die Nationalsozialisten überfallen und besetzen. Nuss muss sich bei seinem Kinderbild somit an der rassischen und künstlerischen Norm des Nationalsozialismus orientieren. Das Ergebnis seiner Arbeit ist die Erschaffung eines »Engels«, das Kind von angeblich idealer, zeitloser Schönheit. Zugleich dokumentiert er als Person mit herausgehobener gesellschaftlicher Position mit der Ausstellung der Kinderplastik auch, dass er und seine Frau erfolgreich für Nachwuchs sorgen.

Die Plastik erscheint darüber hinaus auch deshalb im heutigen Diskurs nicht unproblematisch, weil bereits ihr Ankauf 1950 die Verdrängung der jüngsten deutschen Vergangenheit belegt. Man entschied sich, über Nuss' Anpassung an das Regime hinwegzusehen und seine im Dritten Reich gefertigten Werke als »unpolitische« Kunst zu betrachten. Vor diesem Hintergrund kamen das Kunstmuseum Stuttgart und das Standesamt zu dem Entschluss, dass die bisherige Aufstellung der Plastik aus der Kunst des Nationalsozialismus den Anforderungen nicht gerecht wird. Die Präsentation leistete einen Beitrag dazu, die Vorstellungen über das Kind, wie sie im Dritten Reich vorherrschten, fortzuschreiben. Sie wurden nicht reflektiert und nicht gebrochen. Deshalb wurde im Sommer 2023 eine andere Präsentationsform gewählt und eine Texttafel konzipiert, die die Besucher:innen des Standesamts Mitte nun über die Geschichte der Plastik und ihres Schöpfers informiert.

Die fortdauernde Wertschätzung der akademischen Gegenständlichkeit

 

»Die Kunstgeschichte fasst nur schwer das Phänomen des künstlerischen Mittelmaßes und dessen soziale Relevanz. Bis in die Gegenwart hinein beeinflussen gerade diese Künstler die Alltagswahrnehmung.« 

(Marlies Schmidt, Kunsthistorikerin)

 

Diese Einschätzung der Kunsthistorikerin Marlies Schmidt trifft besonders auf das Werk Josef Zeitlers und anderer vergleichbarer Bildhauer:innen zu, die maßgeblich die Stadtausstattungen ihrer Zeit mitprägten. Schmidt gelangte zu dem Urteil durch die Untersuchung der Geschichte der »Großen Deutschen Kunstausstellung« 1937. Sie analysierte ihre Struktur und ihren Aufbau. Sowohl Zeitler als auch Fritz Nuss waren auf dieser Schau vertreten. Heute geht man davon aus, dass die Ausstellungsobjekte der »Großen Deutschen Kunstausstellungen« von einer akademischen Formen- und Farbensprache beeinflusst waren, deren Wurzeln ins späte 19. Jahrhundert zurückreichen. Mehr als 50 Prozent der Exponate orientierten sich an diesen ästhetischen Vorstellungen. Es handelte sich, wie Schmidt meint, um »mehr oder minder qualitätsvolle Versionen gegenständlicher Kunst«, deren Bewertung der Kunstgeschichte bis heute schwerfällt, weil sie in der Regel nicht am »Phänomen des künstlerischen Mittelmaßes und dessen soziale[r] Relevanz« interessiert ist. 

Es sind aber gerade Künstler wie Nuss oder Zeitler, die bis in die Gegenwart die Alltagswahrnehmung beeinflussen. Viele der Künstler:innen, die auf der »Großen Deutschen Kunstausstellung« 1937 ihre Arbeiten zeigten, sind mit Werken in Museumssammlungen vertreten. Das trifft auch auf das Kunstmuseum Stuttgart zu. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht erstaunlich, dass Nuss' Plastik »Der erste Schritt« ebenso bis heute an prominenter Stelle im öffentlichen Raum ausgestellt ist. Das zeigt die Wertschätzung, die man bis in die Gegenwart in bestimmten Kreisen dieser Form der Gegenständlichkeit entgegenbringt, selbst dann, wenn das Kunstwerk durch seine Historie belastet ist.

Das Phänomen lässt sich nicht nur in den städtischen Institutionen Stuttgarts, sondern auch in Ministerien der württembergischen Landesregierung beobachten. Die Bildhauerin Olga Waldschmidt und ihre Büste des württembergischen Innenministers und von den Nationalsozialisten hingerichteten Widerstandskämpfers Eugen Bolz ist dafür ein Beispiel.