Der Blick auf das wilde Tier. Zoo und Zirkus als Schule der Tiermalerei

Friedrich von Keller, Affe, um 1870-75

Die Tiermalerei erlebt im 19. Jahrhundert eine Blütezeit. In Deutschland entsteht die Gattung des eigenständigen Tierbilds um ca. 1850 mehr oder weniger neu. Für das künstlerische Studium gehören Zoo- und Zirkusbesuche zur Pflicht der Tiermaler:innen. 

Ab 1800 verändert sich die Darstellung von Tieren in ganz Europa grundlegend. Bis dahin werden sie nur im Zusammenhang mit Porträts und Stillleben gezeigt. Hier erfüllen sie rein dekorative Zwecke oder dienen der Repräsentation der oberen Klassen, denen das Privileg der Jagd vorbehalten ist. 

Einhergehend mit der industriellen Revolution und der zunehmenden Verstädterung entwickelt der Mensch ein anderes Verhältnis zum Tier. War er zuvor durch die Landwirtschaft eng mit der Natur verbunden, so bestimmen nun die neuen Gegebenheiten die Lebensumstände. Hierin liegt unter anderem auch die Entstehung der Haustierkultur und vor allem der Zoos begründet, die zur zentralen Begegnungsstätte von Mensch und Tier in der Stadt werden. Einen besonderen Ruf genießt der Zirkus, der mit seinen Darbietungen für kurze Zeit in Traumwelten entführt. Mit der Romantik beginnen nun auch Künstler:innen, sich für das Tier in der Wildnis zu interessieren.

Bedingt durch den fundamentalen Umbruch von der Agrar- zur Industriegesellschaft verlieren zudem über Jahrhunderte überlieferte Themen der Tierdarstellung mit christlichen Botschaften ihre Bedeutung. Jetzt wird in der Kunst das Augenmerk zunehmend auf die Tiere selbst gelenkt: auf die (landwirtschaftlichen) Kulturtiere, die in heiler Natur gezeigt werden, und auf die wilden Tiere, die im Zoo und im Zirkus studiert werden können.

Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken im Kunstmuseum Stuttgart zeugen eindrücklich von der künstlerischen Wahrnehmung der wilden Tiere im Zeitalter der zoologischen Gärten. 

Raumansicht

Der Blick in und aus dem Zoo-Käfig

Wärter im Bärenkäfig Hermann Pleuer 1888

Das Gemälde »Bärenkäfig« von Hermann Pleuer stellt die Innenansicht eines Geheges mit dem Blick nach außen in den Bärengraben dar. Nur wenig ist vom Grün der Vegetation zu sehen. Ansonsten beherrschen massive Gitter und nackte Wände sowie ein Betonboden die Ansicht. Die trostlose Atmosphäre wird von den im Vordergrund liegenden Tierknochen unterstrichen. Sie verweisen auf den unsichtbaren Bewohner. 

Das Werk »Wärter im Bärenkäfig« zeigt von einem etwas höher gelegenen Betrachtungsstandpunkt einen Tierwärter, der durch das geöffnete Gitter den Innenraum des Zwingers betritt. Das nun sichtbare Tier schaut ihm dabei aus dem Graben zu. Beide Gemälde zeigen denselben Raum und fast identische Bildausschnitte. Im Zusammenspiel bilden sie eine Art Erzählung vom Alltag im Zoo.

Höchstwahrscheinlich ist der Bärengraben von Nills Tiergarten, dem privaten Zoo in Stuttgart, dargestellt. Er wird 1871 gegründet und hat zunächst einen Bärengraben, einen Affenkäfig und einen Hirschpark. Zudem gibt es Teiche. Bären wurden in der Regel in kleinen Zwingern gehalten, weil diese leicht zu reinigen waren und die kräftigen und neugierigen Raubtiere nichts zerstören konnten. Die nicht artgerechte Haltung führte jedoch zu krankhaften Verhaltensweisen, zum Beispiel Selbstverletzungen.

Mit dem Aufstieg der zoologischen Gärten zu beliebten städtischen Ausflugszielen im 19. Jahrhundert und dem zunehmenden Interesse an wilden Tieren wird auch der Zoo zu einem Motiv in der Kunst. Pleuers Bilderpaar ist dafür ein Beispiel. Ungewöhnlich realistisch für die Zeit fangen sie ungeschönt die Ödnis und Lebensfeindlichkeit der damaligen Käfighaltung ein.

Üblicherweise nahmen die Künstler:innen bei Zoomotiven die Perspektive der Menschen vor den Gehegen ein. Innenansichten, aus den Käfigen heraus, sind dagegen selten. Das macht die Besonderheit von Pleuers Darstellungen aus. Sie wecken Assoziationen an ein Leben im Gefängnis, an den Verlust von Natur und Freiheit, und lassen Zweifel aufkommen, ob der Tierwärter freier ist als das in Gefangenschaft gehaltene Tier. Auch die städtische Zivilisation kann als »human zoo«betrachtet werden, in dem der Mensch gefangen ist. Deshalb lässt sich Pleuers Bild auch als Verweis auf die Unwirtlichkeit der Städte lesen.

Hermann Pleuer ist um 1900 ein bedeutender impressionistischer Maler in Deutschland. Seine Ende der 1880er-Jahre entstandenen Bildern stehen noch dem Naturalismus nahe.

Bärenkäfig Hermann Pleuer 1887

Sensationeller Zuchterfolg

12 Tage alter Ameisenbär Josef Kerschensteiner 1896

1896 gelingt in Stuttgarts privatem Zoo Nills Tiergarten die wahrscheinlich weltweit erste Nachzüchtung des Großen Ameisenbären. Der Stuttgarter Tiermaler Josef Kerschensteiner zeichnete das schlafende Tierbaby so, dass die Schnauze, die Krallen und der lange Schwanz deutlich zu sehen sind.

Damals erscheint dieses Säugetier den europäischen Zoobesuchern besonders ungewöhnlich wegen der langen dünnen Schnauze und der bis zu 60 cm langen klebrigen Zunge, mit der es Ameisen und Termiten aufleckt. Beheimatet ist der Ameisenbär ursprünglich in Süd- und Mittelamerika, pro Wurf bringt er nur ein Jungtier zur Welt. 

Josef Kerschensteiner ist regelmäßiger Zoobesucher. Die Geburt des Ameisenbären ist eine Sensation und wird aus künstlerischer Neugier und zoologischem Interesse festgehalten. Die Zeichnung belegt den Zuchterfolg des Zoos und veranschaulicht zugleich, dass das Neugeborene bereits alle typischen Merkmale eines ausgewachsenen Ameisenbären hat. Nicht zufällig fügt Kerschensteiner auf der Vorderseite die schriftliche Information hinzu, es sei ein 12 Tage altes Tier dargestellt. Ohne diese Zusatzinformation wäre für die Betrachter:innen nicht unbedingt erkennbar, dass es sich um ein Ameisenbärbaby handelt.

Vielleicht war die Zeichnung als Illustration für einen Zeitschriftenartikel gedacht. Überdies ließ sich eine Bleistiftzeichnung gut in einen Holzstich übertragen, mit dem in der Regel Illustrationen für damalige Printmedien angefertigt wurden.

Affenbilder

Affe Friedrich von Keller um 1870-75

Friedrich von Kellers Ölgemälde »Affe« entsteht vermutlich zwischen 1870 und 1875. Die Studie beschränkt sich auf das Tier, sein Aussehen und seine Haltung. Es wirkt aktiv und aufmerksam, dazu tragen die Körperdrehung, der aufgestützte Arm und der Blick des Affen bei. Keller gelingt es, die Lebendigkeit und Neugier des Tieres einzufangen.

In der Kohlezeichnung »Affenkopf« porträtiert Josef Kerschensteiner einen Orang-Utan. Dabei geht es ihm vor allem um das Gesicht des Tieres, dessen Mimik stark an einen Menschen erinnert.

Säugetiere wie Affen, die von Natur aus äußerst aktiv sind, wecken seit je unser Interesse, insbesondere Affen, da sie unterhaltsam und leicht zu vermenschlichen sind. Über die Jahrhunderte sind sie ein beliebtes Motiv in der Kunst. Im 19. Jahrhundert wächst das Interesse noch durch die entstehende anthropologische Wissenschaft. Man glaubte, besonders Menschenaffen wären dafür geeignet, die Grenze der Erziehbarkeit beim Tier auszuloten und die Unterschiede zwischen Tier und Mensch aufzuzeigen. Die zahllosen Vorführungen im Zirkus und in Zoos, in denen noch bis ins 20. Jahrhundert Affen am Tisch speisen und Tee trinken, dienten vor allem diesem Zweck.

Vor dem Hintergrund von Charles Darwins Evolutionstheorie gewannen Affenbilder zunehmend an Bedeutung, weil nun der Streit darüber entbrannte, ob Affen die Tiere sind, die dem Menschen am nächsten stehen. In den seinerzeit berühmten Affenbildern von Paul Meyerheim (1842–1915) und Gabriel Max (1840 –1915) spiegelt sich dieser hitzig geführte Diskurs wider. Auch Kellers und Kerschensteiners Interesse dürfte einer ähnlichen Quelle entsprungen sein.

Keller ist der Sohn eines Weingärtners. Wegen seines Talents erhält er in jungen Jahren Zeichenunterricht. Seine berufliche Laufbahn beginnt er als Handwerker, nebenbei bildet er sich in Zeichen- und Kunstschulen zum Künstler fort. Anfang der 1870er-Jahre lässt er sich als freischaffender Maler in München nieder. Anerkennung erlangt er durch Bilder von Arbeitern im Steinbruch und in der Hammerschmiede. Sie sind in der deutschen Malerei der 1870er-Jahre eine Ausnahmeerscheinung. 1883 ernennt ihn die Stuttgarter Kunstschule, die spätere Kunstakademie, zum Professor für Malerei. Dort unterrichtet er bis zu seiner Pensionierung 1913.

Im Gegensatz zu Keller ist Kerschensteiner ein Spezialist für Tiermalerei. Er wächst als Sohn des Mediziners und Leiters des bayerischen Medizinalwesens Joseph von Kerschensteiner auf. Seine Kindheit und Jugend verbringt er in München, wo er – ebenso wie an der Kunstakademie in Karlsruhe – Malerei studiert. Großen Einfluss auf seine Entwicklung übte Heinrich von Zügel aus, der mit seinen impressionistischen Tierbildern zu Ruhm gelangte Zu Beginn der 1890er-Jahre zieht er nach Stuttgart und wird Mitglied des Stuttgarter Künstlerbunds. Seine Bilder verkaufen sich nur schlecht. Fortwährende finanzieller Nöte überschatten sein Leben und haben zur Folge, dass er auf die Unterstützung durch seine wohlhabende Familie angewiesen ist.

Affenkopf Josef Kerschensteiner ohne Jahr

Löwenbilder

In einer schnellen Ölskizze und in einer Bleistiftzeichnung hält Hans Molfenter einen ruhenden Löwen und eine liegende Löwin fest. Beim Löwen wetteifert er offensichtlich mit Rembrandts Sepiazeichnung aus den Jahren 1650 bis 1659. Mit wenigen Pinselstrichen gelingt es ihm, die männliche Großkatze mit ihrer charakteristischen Erscheinung lebensnah darzustellen. Ganz ähnlich konzentriert er sich auch bei der kraftvollen Zeichnung der Löwin auf die Umrisse, die Binnenzeichnung ist dagegen nur sparsam eingesetzt. 

Der Löwe ist in der Kunstgeschichte ein allgegenwärtiges Motiv mit langer Tradition als Herrschaftssymbol. Darstellungen des Tieres gibt es in allen Kulturen der Menschheit. Im Europa des 19. Jahrhunderts haben Löwenbilder Hochkonjunktur, bedingt durch den Kolonialismus. Im zur kolonialen Macht aufsteigenden Deutschen Reich gehören sie neben anderem dekorativem Zubehör, wie etwa Raubtierfellen, zur unverzichtbaren repräsentativen Ausstattung einer bürgerlichen Wohnung.

Die Löwenbilder von Hans Molfenter konzentrieren sich auf das Tier, sie zeigen nicht den Ort, an dem er es studierte – den Zoo. Für die Tiermaler:innen des späten 19. Jahrhunderts ist der Ort selbst oft von untergeordneter Bedeutung. Wichtiger sind die Tiere mit ihren Wesenszügen. Dadurch, dass sie nicht im Käfig gezeigt werden, erscheinen sie wie in der freien Natur. 

In den bürgerlichen Zoos können die einst den Fürsten vorbehaltenen Tiere nun von vielen Menschen bewundert werden. Ein Besuch im Zoo ersetzt die Fernreise, die nur für Privilegierte erschwinglich ist, und ermöglicht es, sich durch das genaue Studium der Tiere weiterzubilden. Die Künste leisten dazu ihren Beitrag. 

Der in Neu-Ulm geborene und in Stuttgart gestorbene Molfenter lernt zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn das Lithografie-Handwerk. Ab 1904 studiert er Malerei an der Kunstakademie Stuttgart. Bereits während des Studiums hat er Erfolg und wird mit zwei Goldmedaillen auf Akademieausstellungen ausgezeichnet. Er malt vor allem Tierbilder. Weil er zum Kunstbetrieb ein distanziertes Verhältnis hat, tritt er selten öffentlich hervor. Erst der Direktor der Galerie der Stadt Stuttgart, Eugen Keuerleber, bringt sein Werk wieder in Erinnerung. 1974 organisiert er eine große Molfenter-Retrospektive.

Molfenter erhält eine finanzielle Unterstützung von der Stadt Stuttgart. Er spart das Geld jedoch und vererbt das am Ende angesammelte Vermögen der Stadt. Sie ruft damit den Hans-Molfenter-Preis ins Leben, der seit 1983 vergeben wird. 

Die Bürgerfrau als Raubtierdompteuse

Seit seiner Erfindung lebt der Zirkus von Sensationen. Menschen und Tiere versetzen das Publikum in Staunen und verzaubern es. Großes Aufsehen erregt es, als Tierbändigerinnen zuerst in reisenden Tierbuden und ab den 1880er-Jahren vermehrt im Zirkus und im Zoo wie Nills Tiergarten in Stuttgart auftreten. Einzelne mutige Frauen wagen sich zu den wilden Tieren in den Käfig. Mit Löwen, Bären, Wölfen, Hyänen und anderen Raubtieren führen sie Kunststücke auf, die atemberaubend die Bändigung der wilden Kreatur und damit die Erhebung des Menschen über das ungezähmte Tier, den Sieg der Zivilisation über das »Wilde« demonstrieren. Neu daran ist, dass sich das sogenannte schwache Geschlecht zu solcher Macht emporschwingt.

Die von Josef Kerschensteiner bei einem Dressurakt dargestellte »Madame Heliot« heißt mit bürgerlichem Namen Clara Pleßke. Sie ist die Tochter eines Postsekretärs in Halle (Saale) und steigt zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Claire Heliot zur bedeutendsten deutschen Raubtierdompteuse auf. Zuerst arbeitet sie aus Tierliebe als Pflegerin im Leipziger Zoo, dann beginnt sie dort Löwen zu dressieren. 1898 tritt sie erstmals als Löwendompteuse auf und startet eine glanzvolle internationale Karriere. Wegen ihrer »zahmen Dressur« verkörpert sie als Raubtierbändigerin die »Freundschaft« zwischen Mensch und Tier.

Claire Heliot ist mit ihren Tieren auch in Nills Tiergarten zu sehen. Vermutlich hat Josef Kerschensteiner sie dort gezeichnet. 1910 lässt sie sich in Stuttgart nieder, wo sie verarmt stirbt. Als ungewöhnliche Frau ist sie stadtbekannt und wird von diversen Stuttgarter Künstler:innen porträtiert. Die Städtische Galerie Stuttgart erwirbt 1933 von Karl Goll ein Ölporträt von ihr, das jedoch verloren ging.

Madame Heliot Josef Kerschensteiner ohne Jahr

Der Privatzoo Doggenburg

Kamel (Tiergarten Doggenburg) Bruno Albert von Sanden 1929

Die kleinformatige Bleistiftzeichnung »Kamel (Tiergarten Doggenburg)« erfasst in vortrefflicher Weise das stehende Kamel. Von der Seite gesehen, lassen sich die typischen Merkmale des auch »Wüstenschiff« genannten Paarhufers erkennen. Die Umgebung ist nicht wiedergegeben, aber im Titel genannt: Es handelt sich um den Stuttgarter Privatzoo Doggenburg. Mit kräftigen Strichen eines weichen Bleistifts und mit starken Schraffuren und Schattierungen erfasst der Bildhauer Bruno von Sanden den markanten Körper des Kamels und sein Fell. 

Über von Sanden ist nicht viel bekannt. Ein Schwerpunkt seiner Bildhauerei scheint das Tiermotiv gewesen zu sein. Seine künstlerische Ausbildung erhält er wahrscheinlich an der Kunstakademie Stuttgart. Dort soll er auch Ende der 1920er-Jahre als Dozent gearbeitet haben. 1928 erstellt von Sanden eine Grafikmappe, die 40 lose Blätter nach Zeichnungen von Tieren beinhaltet und vom Stuttgarter Verlag Heinrich Fink herausgebracht wird. Vielleicht gehörte die Kamelzeichnung dazu.

Der Tiergarten an der Doggenburg lag in Stuttgarts Norden. Ursprünglich befand sich an dem Platz eine Züchterei für Doggen, die ein Kaufmann 1876 gründet. Einige Zeit später wird das Gelände von einem Gastwirt erworben, um hier ein Ausflugslokal zu betreiben. Als Nills Tiergarten 1906 verkauft wird, übernimmt die Restauration »Zur Doggenburg« einen Teil des Tierbestands von Nills Zoo. Allerdings ist dieser Tiergarten nur ein Kleinzoo, der bis 1942 besteht. Er gehört zu den vier Zoos in Stuttgart, die in den Jahren von 1817 bis 1942 existieren. Eine der Attraktionen der Doggenburg sind die Kamele.

Ein geträumter Zoo

Reinhold Nägele schafft sein kleines Wimmelbild Weihnachten 1923. Aus erhöhter Perspektive blicken wir auf einen »Zoologischen Privat-Garten«, eine kleine Stadt in der Stadt, die aus vielen Tierhäusern und -käfigen besteht. Im Bildvordergrund ist ein Bärengraben mit einem Braunbären und einem Eisbären zu sehen. Dahinter befinden sich Gehege von Raubkatzen und Elefanten, zudem gibt es ein Affenhaus und viele weitere Zwinger und Tierhäuser, die sich in dichter Staffelung in die Tiefe des Bildraums erstrecken. Mit viel Liebe hat sich Nägele den architektonischen Details der Tierhäuser gewidmet. Keines gleicht dem anderen und eines sieht exotischer aus als das andere.

Die tatsächlichen Größenverhältnisse zwischen der Architektur, den Tieren und den Menschen sind zugunsten der Sicht- und Erkennbarkeit der Tiere aufgehoben. Der Schimpanse steht wie ein Riese in seinem Käfig, die Elefanten erscheinen im Vergleich geschrumpft. Obwohl Nägele sein Bild »Zoologischen Garten« nennt, gleicht die Anlage eher einer steinernen Wüste, in der sich die Bäume und das wenige Grün verlieren. Sein Zoo ist eine fantastische, beinahe traumartige Stadt, in der die Menschen ihrer Schaulust nachgehen. 

Nägele zeigt keinen bestimmten, identifizierbaren Zoo, sondern setzt die Idee des für das späte 19. / frühe 20. Jahrhundert typischen Zoos ins Bild. Wie seinerzeit noch weit verbreitet, prägen in den Zoos der europäischen Metropolen zumeist ausgefallen gestaltete Tierhäuser das Bild, die mehr an städtische Architektur als an geeignete Behausungen für Tiere erinnern – selten gibt es großzügige Gehege wie bei Hagenbeck in Hamburg. Die Anlagen sind eine einzigartige Inszenierung mit »lebenden Schauobjekten«. Sie versprechen Unterhaltung und Bildung zugleich. Dass Nägele einen »Zoologischen Privat-Garten« zeichnet, ist vermutlich den Verhältnissen in Stuttgart geschuldet, wo es bis 1942 nur Privatzoos gibt.

Reinhold Nägele ist der Sohn eines Dekorationsmalers. Er geht zuerst bei seinem Vater in die Lehre. Dann besucht er die Kunstgewerbeschule in Stuttgart, im Anschluss setzt er sein Kunststudium in München fort. Ausstellungen in der Berliner Galerie Paul Cassirer in den Jahren 1906 bis 1908 machen ihn bekannter. Nägele gehört zu den Mitbegründern der Stuttgarter Sezession und ist ihr Stellvertretender Leiter.

Wegen seiner jüdischen Ehefrau, der Hautärztin Alice Nördlinger, die als Ärztin praktiziert und im Dritten Reich Berufsverbot erhält, wird Nägele mit seiner Frau verfolgt und verfemt. Das Ehepaar wandert 1939 in die USA aus, wo es mit seinen Kindern in New York City lebt. 

Nägele gehört zu denjenigen württembergischen Künstler:innen des 20. Jahrhunderts, die zu Lebzeiten eine gewisse überregionale Bekanntheit erlangen. Heute wird sein Werk vor allem der Neuen Sachlichkeit der 1920er-Jahre zugeordnet.